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Unzählige Menschen haben in den letzten Jahrtausenden die bewusstseinsverändernden Wirkungen von Cannabis für verschiedenste Zwecke benutzt – sowohl für die medizinische Nutzung wie zum Beispiel gegen Schmerz, post-traumatischen Stress oder Schlafstörungen, aber auch für religiöse, inspirative und andere Zwecke.
Einige haben uns erstaunlich detailliert die Wirkungen von THC-haltigem Cannabis auf ihr Bewusstsein beschrieben und viele von ihnen waren überzeugt davon, dass das Cannabis High ihr Leben und ihre Arbeit maßgeblich positiv beeinflusst hat. In einem Interview für das Life Magazine 1969 sagte z.B. der legendäre Gitarrist Jimmie Hendrix: "Marihuana ist eine große Hilfe für die Musik, und es war immer eine Unterstützung für mich."
Der einflussreiche deutsche Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin experimentierte bereits in den 1920er Jahren in Berlin mit Haschisch, um profunde Einsichten für seine Arbeit zu generieren. Gelegentlich dabei war auch sein Freund, der Philosoph Ernst Bloch, einem späteren Freund von Rudi Dutschke, dem legendären Wortführer der 1968er Studentenbewegung. In meinem Buch What Hashish Did To Walter Benjamin argumentiere ich, dass Benjamin in seinen Protokollen tatsächlich viele Wirkungsweisen von Haschisch auf das Bewusstsein sehr genau beschrieb und dass der Einfluss von Cannabis seine Arbeit maßgeblich inspirierte.
„Bilder und Bilderreihen, längst versunkene Erinnerungen treten auf, ganze Szenen und Situationen werden gegenwärtig (...)“. Benjamin beschreibt hier zum Beispiel für die Zeit während des Highs eine Verbesserung des episodischen Gedächtnisses, also unserer Fähigkeit, uns an Episoden in unserem Leben zu erinnern.
Benjamin verlor während eines Highs aber auch öfter den Faden bei seinen Gedanken, sein Kurzzeitgedächtnis war also beeinträchtigt. “Die Zusammenhänge werden wegen des oft plötzlichen Abreißens jeder Erinnerung an Vorhergegangenes schwierig“.[1]
Wie aber genau wirkt THC-haltiges Cannabis aus heutiger Sicht auf unser Bewusstsein? Was ist ein Cannabis „High“?
Jenseits von „Rausch“ und „Betäubungsmittel“
Als analytischer Sprachphilosoph halte ich es für sehr wichtig, uns der Sprache bewusst zu werden, mit welcher wir über Sachverhalte sprechen – vor allem, wenn die Begriffe, die wir bisher verwenden, so viele Vorurteile und falsche Vorstellungen beinhalten. Um mit Ludwig Wittgenstein zu sprechen: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache“.
Wenn es um den von THC-haltigem Cannabis induzierten veränderten Bewusstseinszustand geht, werden im Deutschen oft zwei irreführende Begriffe benutzt, die sich eigentlich widersprechen. Zum einen sprechen wir über Cannabis als „Betäubungsmittel“ – bis vor kurzem war Cannabis ja tatsächlich auch medizinisch als „Betäubungsmittel“ klassifiziert. Bei einer Betäubung werden Schmerzen, aber auch andere Empfindungen gedämpft bzw. sogar ausgeschaltet. Motorisch gesehen kann eine Betäubung zeitweise auch zu einer Lähmung der Muskulatur führen.
Auf der anderen Seite wird das Cannabis High oft als „Rausch“ beschrieben. In der Bedeutung des Wortes „Rausch“ schwingt noch die aggressive Bedeutung aus seiner Wortherkunft aus dem Mittelhochdeutschen „rūsch“ mit, welche als „rauschender Bewegung, Anlauf, Angriff“ angegeben wird.[2] Also Cannabis betäubt – und führt in einen aggressiven Rauschzustand?
Nachdem ich über zwanzig Jahre über das Cannabis High geforscht habe, würde ich beide Charakterisierungen als irreführend bezeichnen – auch wenn sie manche Aspekte des Highs korrekt beschreiben.
So können einige Sorten von Cannabis tatsächlich „betäubend“ auf Schmerzen wirken und manche Sorten wirken auch sedierend und auch in gewisser Weise zeitweise „lähmend“ auf den Körper – das berühmt-berüchtigte Gefühl, „stoned“ bzw. „couchlocked“ zu sein, also wie „gesteinigt“ bzw. in die Couch gedrückt zu werden. Allerdings gilt das nicht für andere Cannabis Sorten, die weder müde machen noch ein Gefühl der körperlichen Müdigkeit oder Schwere auslösen, sondern im Gegenteil von vielen Nutzern als euphorisierend und energetisierend beschrieben werden.
Was die aggressive Assoziation im Begriff „Rausch“ betrifft, ist inzwischen eigentlich jedem klar, dass Cannabis wohl kaum zu aggressivem Verhalten führt. Bill Hicks, einer der besten Stand-Up Comedians aller Zeiten, beschrieb dies sehr eloquent in einer seiner Shows: „Du bist bei einem Ballsportevent oder bei einem Konzert und jemand ist wirklich gewalttätig und aggressiv und unausstehlich, ist derjenige dann betrunken? Oder raucht er Pot (Cannabis)? (Sein Publikum ruft: „Betrunken!“) Ich habe noch niemals Leute gesehen, die auf Pot in eine Schlägerei geraten, weil es einfach verdammt unmöglich ist!“
Man könnte aber sagen, dass das High gelegentlich zu einer Art sinnlichen „Rausch“ führt, wobei gemeint ist, dass die Gedanken assoziativ rasen und man auch leichter in einen euphorischen, enthemmten und auch ekstatischen Zustand wie zum Beispiel beim Sex geraten kann.
Kurz gesagt, also benennen herkömmliche Bezeichnungen der Wirkung von Cannabis auf unser Bewusstsein zum Teil zwar auch korrekte Aspekte, sind aber ansonsten weitestgehend irreführend. Wenn wir das Cannabis High besser verstehen und präziser beschreiben wollen, um damit besser umgehen zu können, müssen wir uns von konventionellen Vorstellungen und damit auch von diesen irreführenden Begriffen lösen.
Was macht die Beschreibung des Cannabis Highs so schwierig?
Um das Cannabis Highs besser zu verstehen, hilft es uns, zu analysieren, warum dies bisher so schwierig war. Hier würde ich einige wichtige Aspekte unterscheiden.
1. Staatliche Desinformation bezüglich der Wirkung von Cannabis
Die fast weltweite staatliche Prohibition von Cannabis wurde vor allem von den USA seit Ende der 1930er Jahre vom Leiter deren Drogenbehörde Harry G. Anslinger forciert und über seinen Einfluss auf die Vereinten Nationen international gesetzlich verankert. Inzwischen ist historisch gesichert, dass ausgehend von Anslinger, der die Drogenbehörde jahrzehntelang leitete, immer wieder staatliche Desinformationskampagnen stattfanden, die auch nach ihm unter US-Präsident Nixon weitergeführt wurden. Die Wirkung von Cannabis wurde dabei geradezu lächerlich übertrieben gefährlich und falsch darstellt, um eine Prohibition zu rechtfertigen, die vermutlich ganze andere Gründe hatte als den Schutz der Bevölkerung.[3]
Anslinger ließ über die Boulevardpresse in den 1930er Jahren das Gerücht verbreiten, Marijuana mache Nutzer zu Amokläufern, die in einem aggressiven Rausch sinnlos Menschen töten. In der McCarthy Ära der 1950er Jahre, als in den USA eine geradezu hysterische antikommunistische Stimmung herrschte, ließ er wiederum verbreiten, dass Cannabis von chinesischen Agenten ins Land gebracht wurde, um amerikanische Nutzer friedfertig zu stimmen und damit deren Wehrfähigkeit zu untergraben.
2. Eine Vielzahl von Cannabis Sorten und Wirkungen
Es ist aber auch deshalb schwer, „das“ High zu beschreiben, weil unterschiedliche Sorten unterschiedliche Highs bewirken können, die sich zwar in gewisser Weise ähneln, da sie hauptsächlich von THC bewirkt werden, die aber auch in vielerlei Hinsicht voneinander abweichen können. So machen manche Sorten müde, während andere eher energetisierend wirken. Die Pflanze Cannabis enthält über 100 Cannabinoide, 200 Terpene und viele Flavonoide und andere Substanzen, welche in verschiedenen Cannabis Sorten in verschiedenen Mengen und Verhältnissen vorzufinden sind. Wir wissen inzwischen, dass viele dieser Substanzen synergistisch mit THC und untereinander wirken – man spricht auch vom „Entourage Effekt“ – und dass verschiedenen Sorten von Cannabis deswegen unterschiedliche Wirkungen auf die Psyche und auch medizinisch unterschiedlich eingesetzt werden können.
3. Introspektion muss erlernt werden
Selbst für viele erfahrene NutzerInnen von Cannabis ist es schwierig, den komplexen Bewusstseinszustand des High“ detailliert zu beschreiben. Genauso wie es einem Neuling schwerfällt, die Nuancen des Geschmacks eines großen Weines zu beschreiben, fällt es vielen Menschen schwer, psychische Zustände und Veränderungen in ihrer ganzen Komplexität wahrzunehmen und zu beschreiben. Wo der unerfahrene Weintrinker gerade einmal noch von einem „fruchtigen und trockenen Geschmack“ eines großen Weins berichten kann, erzählen uns Sommeliers von einem Geschmack von dunkler Beerenkonfitüre, marokkanische Minze und Lakritze in der intensiv parfümierten, mineralisch geprägten Nase mit nachklingenden floralen Noten, ansteigenden Tanninen und einem langen, rauchigen-herbalen Abgang. Wenn wir Berichte über die subjektiven Wirkungen von Cannabis analysieren, sollten wir also immer auch darauf achten, wie fähig die NutzerInnen sind, ihre Erfahrung introspektiv wahrzunehmen und verbal zu beschreiben.
4. Viele Faktoren beeinflussen das High
Es ist auch deshalb nicht leicht zu verstehen, welche Art von Bewusstseinszustand von Cannabis ausgelöst wird, da die psychoaktiven Wirkungen von Cannabis nicht nur von der Sorte, sondern auch von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird. Dabei spielt natürlich die Dosis eine große Rolle, aber auch das (mind)set des Nutzers, also die Einstellung, die Überzeugung und die derzeitige mentale Verfassung des Nutzers, aber auch das Setting, also die Umgebung, in der das Cannabis eingenommen wird. Wesentlich für den Verlauf des Highs ist auch die Fähigkeit des Nutzers, mit einem High umzugehen und es in dessen Leben zu integrieren.
Das Multidimensionale High
Wenn wir uns das Potential des Cannabis Highs genauer ansehen, dann müssen wir vor allem auch Berichte von Menschen analysieren, die dieses gekonnt genutzt haben und diese Erfahrungen abgleichen mit Studien und Erfahrungsberichten von PatientInnen aus der Medizin sowie mit unserem Wissen über das Endocannabinoid-System, aber auch interdisziplinärer Forschung über Wahrnehmungs- und Denkprozesse sowie zu Stimmungen und Gefühlen. Nach über zwanzigjähriger Forschung ist mein Fazit kurz gesagt dies: ein Cannabis High ist multidimensional. Mit anderen Worten: das High ist gekennzeichnet durch ein ganzes Spektrum von Wirkungen auf unser Bewusstsein.
NutzerInnen haben oft darüber berichtet, dass sie während eines Highs ihre Aufmerksamkeit besser fokussieren können und viele Menschen bekommen inzwischen Rezepte für die Behandlung ihrer ADHS. Gleichzeitig erleben viele NutzerInnen eine Intensivierung ihrer Sinneseindrücke; die Wahrnehmung z.B. des Geschmacks einer Kirsche wird aber nicht nur intensiver, sondern auch detaillierter. Sie erleben ein Gefühl des Staunens, kommen in das Hier und Jetzt des Momentes und erleben zum Beispiel den Kuss ihres langjährigen Partners wie beim ersten Mal. Sie richten Ihre Aufmerksamkeit stärker auf körperliche Wahrnehmung und auf nonverbale Körpersprache; sie entdecken neue Muster, z.B. im Verhalten ihrer Freunde oder in dem Sound eines Instrumentes.
Unter starker Dosierung haben viele Nutzer synästhetische Wahrnehmungen, wie zum Beispiel das Sehen von Farben, die zu Tönen eines Gitarrensolos korrespondieren. Oft berichten zwar NutzerInnen bei Überdosierung über Probleme mit ihrem Kurzzeitgedächtnis und verlieren den Faden mitten im Gespräch; aber viele berichten auch von einer verbesserten Fähigkeit, episodische Erinnerung abzurufen und im Detail wieder zu erleben, als wären sie in die Vergangenheit transportiert. Eine weitere vielbeschriebene und oft genutzte Wirkung ist eine verbesserte Fähigkeit zur Imagination, nicht nur bildlich, sondern zum Beispiel auch beim Vorstellen einer Geschmackskombination z.B. für ein Dessert mit dunkler Schokoladensauce und Mangosoße mit Zimt.
Viele erleben während eines Highs sehr schnelle, assoziative Gedankengänge; bei anderen Sorten und Dosierungen berichten andere wiederum von einer großen Ruhe und Klarheit und davon, dass sie ihre Gedanken sehr gut sortieren können. Die Wahrnehmung der Zeit ändert sich; oft wird beschrieben, dass diese sehr langsam zu vergehen scheint, andere beschreiben aber auch, dass die Zeit sehr schnell zu vergehen scheint.
Es wird immer wieder berichtet, dass NutzerInnen eine bessere Wahrnehmung ihres eigenen Körpers („Propriozeption“) haben. Auf einmal fühlen sie intensiv die Verspannung im Nacken als Folge des langen Sitzens vor dem Computer; sie erleben aber auch stärker das wunderbare Gefühl, an einem heißen Sommertag in einen kühlen See zu springen.
Interessanterweise kann sich das High bei günstigen Bedingungen sehr stark stimmungs-modulierend auswirken. Es kann euphorisierend sein, stimmungsaufhellend, enthemmend, angstlösend, aber auch unter ungewohnt starker Dosierung zu Angst oder Panik führen. Viele Nutzer haben das Gefühl, einen besseren introspektiven Zugang zu sich selbst, zu ihrem Körper, aber auch zu ihrer Persönlichkeit zu haben.
Andere Cannabis Nutzer berichten von einem besseren empathischen Verstehen anderer Menschen während eines Highs und wir sehen gerade bei einigen Menschen im autistischen Spektrum, wie die Einnahme von Cannabis deren Fähigkeit zur Empathie und zur sozialen Interaktion zum Teil erstaunlich zu verbessern scheint. Damit einhergehend berichten viele Nutzer nicht nur von einem aphrodisierenden Effekt, sondern von einer intensiveren, empathischeren und tiefen sexuellen Erfahrung. Viele prominente und sehr erfahrene Cannabisnutzer berichten von kreativen Schüben während eines Highs und von spontanen Einsichten und Aha-Erlebnissen, die sie für sehr wertvoll halten.
Das Cannabis High zeichnet sich also offensichtlich durch eine Vielzahl von Wirkungen auf unser Bewusstsein aus, welche unter günstigen Umständen positiv genutzt werden können – unter ungünstigen Umständen aber auch Gefahren mit sich bringen.
Surfen Lernen
Für viele PatientInnen cannabinoider Medizin ist es sicher ein Segen, dass bei regelmäßigem Gebrauch von medizinischem Cannabis zwar die gewollte Wirkung z.B. auf „Ticks“ bei einem Nutzer mit Tourette-Syndrom bei gleicher Dosis in der Regel bestehen bleibt, aber die hier beschriebene komplexe Psychoaktivität mit der Zeit oft schwindet. So können sie auch höhere Dosen von Cannabis nach einer Eingewöhnungsphase medizinisch so nutzen, dass sie z.B. wieder in der Lage sind, Auto zu fahren – ähnlich wie bei Patienten, die opioide Medizin bekommen.
Manche Patienten aber, die weniger Cannabis nutzen oder dies in unregelmäßigen Abständen tun, sollten lernen, mit der Psychoaktivität von Cannabis umzugehen. Und möglicherweise werden einige von ihnen diese auch für sich nutzen wollen, so wie es weltweit Millionen von anderen Menschen seit Jahrtausenden getan haben, um veränderte Bewusstseinszustände für viele Zwecke und Lebensbereiche zu nutzen.
Für diese Patienten und für alle anderen, die die Psychoaktivität von Cannabis nutzen wollen, ist es wichtig zu lernen, das Cannabis High wie ein Surfbrett zu nutzen – welches auch als „Werkzeug“ betrachtet werden kann, um großartige Erfahrungen beim Wellenreiten zu machen.
Dazu müssen Nutzer lernen, dieses Werkzeug gezielt einzusetzen. Beim Cannabis High ist es ähnlich: nur wenn man lernt, dieses wie ein Surfbrett zu nutzen, wird man es nutzen können, um sein Leben auf vielfältige Weise zu bereichern. In meinem minimalistischen Ratgeber Die Kunst des Highs. Wie wir mit Cannabis unser Bewusstsein bereichern können gebe ich eine praktische Anleitung dazu, wie man mit relativ einfach einfachen Mitteln und Kenntnissen Risiken eines Highs vermeiden und dessen Potenzial besser nutzen kann, um das High und vielleicht auch besser die Wellen des Lebens zu reiten.[4] Um mit dem Achtsamkeitslehrer Jon-Kabatt Zinn zu sprechen:
„You can’t stop the waves, but you can learn how to surf”
Quellen:
[1] Benjamin, Walter (1972) Über Haschisch, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 45.
[2] Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (2024), https://www.dwds.de/wb/Rausch, letzter Zugriff am 22.8.2024
[3] Siehe Marincolo, Sebastián (2023), Elevated. Cannabis as a Tool for Mind Enhancement. Kapitel X, Hilaritas Press, Grand Junction, Colorado, USA.
[4] Marincolo, Sebastián (2021), Die Kunst des Highs. Wie wir mit Cannabis unser Bewusstsein bereichern können. Tredition Hamburg.
Bilderecht Autorbild: (c) Sebastián Marincolo
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